Mein Bild des Jahres 2022 scheint nicht auffällig, ist aber schön anzusehen und hat eine Geschichte. Es zeigt die Ausfahrt des ersten Zugs aus der höchst gelegenen und ganzjährig bedienten Bahnstation im Netz der RhB, Rhätische Bahn, an einem Januartag um sieben Uhr morgens. Der geneigte Leser weiss: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung 😅. Der Zug ist soeben ausgefahren und die Lok fährt in die Kurve ganz links 😁.
Ospizio Bernina liegt auf einer Höhe von 2253 m über Meer. Dieser kleine Bahnhof am Bernina-Pass gelegen, ist eine Jahrtausende alte Verbindung aus der Römerzeit und verbindet das Oberengadin mit dem Puschlav und dem Veltlin. Er liegt am höchsten Punkt der Bernina-Bahn, am Ufer des Lago Bianco auf dem Gemeindegebiet von Poschiavo im Kanton Graubünden. Der Lago Bianco, ein Stausee wird von zwei Talsperren auf seiner Nord- und seiner Südseite begrenzt. Von hier wandert man entlang des Sees nach Sassal Masone und der Bahnstation Alp Grüm mit der weltberühmten 180° Grad-Kehre der RhB.
Warum also wählte ich gerade diese Aufnahme zum Bild des Jahres 2022? Nicht der Situation oder des schönen Motivs wegen; auch die Lichtstimmung zum verhaltenen Sonnenaufgang spielte bei der Wahl keine Rolle. Vielmehr brachte mich die Aufnahmesituation vorort trotz sehr guter Funktionskleidung und besten Schuhen an meine physische Leistungsgrenze.
Es war ein Januartag morgens um sieben Uhr, eine Temperatur von -20 °C, ein andauernd starker Wind von vorne ins Gesicht und keinerlei Deckungsmöglichkeit. Es war saukalt und ich spürte die Kälte ausser am Rumpf überall am Körper. Mein Gesicht juckte und schien einzufrieren. Ich wollte nur noch weg; aber wohin? Nach vorne fiel das Gelände steil zum Bahngeleise hinunter ab, im Rücken nichts anderes als gefrorener Schnee, der Weg hoch zur Strasse steil und beschwerlich. Kurz: Jeder Schritt eine Kraftanstrengung. Ich verfluchte die Idee hier um diese frühe Uhrzeit zu fotografieren: Eine Schnapsidee von Philipp dem Foto-Guide. «Winterzauber Engadin» der Kursname; an diesem Morgen für mich wenig zauberhaft. Ich haderte mit der Situation, hielt es aber doch 45 Minuten lang aus. Mein Bild des Jahres 2022 ist eine der ersten Aufnahmen an diesem Morgen.
Heute, viele Monate später, finde ich mein Bild des Jahres 2022 eine perfekte Wahl. Er erinnert mich an die schwierige Situation im Gelände und meine physische Anstrengungen um das Bild des Jahres 2022 auf den Sensor zu bannen.
Die Aufnahme entstand mit meiner Fuji GFX50s II und dem Objektiv GF23mmF4 ab Stativ. Bearbeitet in Adobe Lightroom. Langzeitbelichtung 60 Sekunden.